Müssen wir uns immer messen?

Das schöne Pfingstwetter lud mich dazu ein. Ich hatte nach einer radikalen Fastenzeit von 17 Tagen und anschließender Disziplin endlich wieder einen guten körperlichen Zustand erreicht und auch wieder mit längeren Fahrradrunden begonnen. Während mir noch vor wenigen Wochen eine Runde in diesen Dimensionen selbst auf der Harley zuviel gewesen wäre, überlegte ich nun, ob ich es schaffen würde, jeweils zum Ende einer Woche eine 100 km Runde zu absolvieren.

Ich suchte mir ein paar Strecken heraus und machte einen Anfang mit einer Fahrt, die auf etwa 75 km geplant war und am Ende 80 km umfasste. Ich hatte mir keinen Druck gemacht und verschiedene Optionen gelassen, falls ich mich körperlich doch nicht so gut fühlen würde. Aber es ging erstaunlich gut, obwohl ich erst vor etwa 8 Wochen mit den ersten 20 km Runden wieder begann. Bei Kilometer 55 dachte ich: „Oh Bernd, du bist ganz schön schnell wieder ganz gut geworden. Zugegeben, manchmal überholt mich jemand, aber es ist tatsächlich selten.“ Noch nicht zu Ende gedacht tauchen 3 Radler neben mir auf, 2 Männer und eine Frau – alle viel schneller. Ich, der gerade mal auf dem Radweg fuhr, also runter auf die Straße und hinterher! Die zwei Kerle geben richtig Gas und ich dachte einen Moment, die Lady kommt nicht mehr mit. Weit gefehlt, sie bekommt den Anschluss und alle drei jagen einem Bus hinterher. Allerdings kam ich kein Stück näher und das Tacho zeigte bergauf immerhin 37 km/h. Ich gab alles und wenige hundert Meter später stelle ich fest, ich kam nicht nur nicht näher, die drei zogen einfach davon. Einen Wimpernschlag später waren sie nicht einmal mehr zu sehen! Ich, der sich eben noch so prächtig fühlte, hatte nicht den Hauch einer Chance, wenigstens für einen Moment ebenbürtig zu sein, und ich frage mich, wieviel sie wohl trainiert haben, um in diesem hervorragenden Zustand zu sein.

Keineswegs frustriert schrieb ich dieses Erlebnis in Kurzform in einem Facebook-Beitrag nieder und bekam wenig später verschiedenste Reaktionen. Besonders interessant war dabei die Frage einer Dame, warum wir uns denn immer messen müssten?! Sie würde meine Leistung als großartig empfinden und könne diesen Wettkampf nicht verstehen.

Ich will nun die Gelegenheit nutzen, mit Ihnen über meine Gedanken zu Wettkämpfen und Leistungen zu philosophieren. Zuerst einmal sei gesagt, dass dies sicherlich jeder etwas anders empfindet und betrachtet. Das ist völlig in Ordnung, denn wir sind nun einmal nicht alle gleich. Dabei ist der Anteil der männlichen Zunft sicherlich etwas größer, der das Streben für sich als gut bewertet. Ich empfinde das Messen meiner Leistung und auch im Vergleich mit anderen besonders wichtig für meine Entwicklung und meine Fortschritte. Es hat für mich auch eine Reihe von anderen Vorteilen. So hilft es mir am Boden zu bleiben und nicht dem Größenwahn zu verfallen, denn es gibt einfach immer jemanden, der besser, schneller oder stärker ist. Das durfte ich beim Kraftsport oder Boxen genauso erleben wie beim Radfahren und es hilft mir es auch bei beruflichen Dingen stets vor Augen zu behalten. Es lehrt mich die Demut. Und diese Demut bringt mich sogleich in die Dankbarkeit darüber, überhaupt auf diesem Niveau mitmachen zu können, nach all dem, was mein Geist und mein Körper bereits erleben mussten. Allem voran aber zeigt es mir immer wieder Möglichkeiten, die ich selbst kaum oder manchmal auch gar nicht in Betracht gezogen hätte. So wie bei dem obigen Beispiel. Die drei waren einfach so gut in Form, dass sie mir zeigten, welche Steigerungsmöglichkeiten noch bestehen. Und dabei geht es keineswegs darum mir meine Leistungen klein zu reden oder gar abzuerkennen, denn das mache ich weiß Gott nicht; ich respektiere sie und erkenne mich dafür an. Ich bin froh in so kurzer Zeit wieder in Topform gekommen zu sein und weiß auch, dass dies nur möglich ist, weil ich mich, bei allen Schandtaten zwischendurch, doch auch stets um mein Wohlbefinden und meine Verfassung gekümmert habe. Aber diese irrsinnigen Steigerungen und Leistungszuwächse, die selbst im Freizeitsport zu erzielen sind, begeistern mich einfach. Sie zeigen uns sehr deutlich die Möglichkeiten und Chancen des Lebens, trotz aller Krisen und Niederlagen. Der Sport ist einfach ein wunderbares Gleichnis zum Leben!

Vor einigen Jahren hatte ich schon einmal so ein prägnantes Erlebnis, als ich mich bei der Beinpresse bei etwa 240 Kilogramm ganz gut fand. Vor allem unter Berücksichtigung der Tatsache, dass mein Bein komplett kaputt war und ich in den letzten Jahren 5 Operationen hinter mir hatte und die Ärzte mich immer wieder darauf hinwiesen, ich solle froh sein mein zweites Bein noch zu haben und überhaupt laufen zu können. Da tauchte eines Tages bei einem anderen Training, im Spiegel ein junger Mann in besagter Beinpresse auf, der 400 Kilogramm bewegte! Und das beste war, er machte weder laute Geräusche dabei, noch sah er besonders kräftig aus. Er machte es einfach, weil es für ihn “ganz normal” war. Innerhalb weniger Wochen konnte ich meine Leistung auf 500 Kilogramm steigern! Ich habe mich dann schnell wieder von diesem Gewicht entfernt, aus gesundheitlichen Gründen, aber ich konnte es mir selbst beweisen.

Es geht einfach immer viel, viel mehr, als wir selbst für möglich halten. Und glauben Sie mir, ich bin kein Mensch, der klein denkt oder Zweifel hat. Unser wirkliches Vorstellungsvermögen zeigt sich immer erst, wenn wir uns auf den Weg machen. Fangen Sie an und werden Sie Stück für Stück besser, in dem was Sie tun –  egal, ob es um Sport, die Beziehung oder den Beruf geht. Machen Sie keineswegs den Versuch alles auf einmal erreichen zu wollen. Sie würden sich nur selbst um den Genuss der Entwicklung bringen und obendrein funktioniert es sowieso nicht. Sie müssen Stück für Stück wachsen. Nicht langsam, aber Stück für Stück.

Genießen Sie Ihre neue Woche und seien Sie gesegnet mit dem nötigen Vertrauen, dass Sie im Leben benötigen.

Herzlichst, Ihr Bernd Kiesewetter